20 Jahre Oberhavel: Subjektive Erinnerungen an die Kreisgebietsreform und Gründung des Landkreises 1993

Kein Unglück ist zu groß – es wohnt ein Glück in seinem Schoß.

Lebensmotto meiner Großmutter

1. Wie ich ein Brandenburger wurde

Meine Mutter hat es mir einige Male belustigt erzählt, wie sie mit mir schwanger war und beabsichtigte in ihrer westfälischen Heimatstadt Detmold, im Haus meiner Großmutter, zu entbinden. Ich sollte ein Wessi werden.

Dazu brauchte sie aber einen Interzonenreisepass. So marschierte meine Mutter eines Tages, Ende 1950, mit ihrem dicken Bauch zur sowjetischen Stadtkommandantur, zu einem noch dickeren kahlgeschorenen russischen Offizier. Er hörte sich ihren Vortrag zwar noch an, entschied dann aber militärisch kurz und bündig, mit einem Wort – dem Lieblingswort der Besatzer: „Njet“. So kam es, dass ich im Januar 1951 in Oranienburg geboren und mit Havelwasser getauft wurde. In meiner Geburtsurkunde steht noch: Oranienburg – Kreis Niederbarnim. Schon ein Jahr später gab es ihn nicht mehr. Dieser große Kreis umfasste das ganze Gebiet nordöstlich von Berlin, mit der Kreisstadt Bernau und hatte seinen Ursprung in den Stein-Hardenbergschen Kommunalreformen Anfang des 19. Jahrhunderts. Diese Kreiseinteilung hielt rund 150 Jahre und konnte also so schlecht nicht gewesen sein. Demgegenüber sieht die heutige Landesregierung schon nach zwanzig Jahren Reformbedarf bei der Kreiseinteilung, um den eigenen Murks von 1993 zu heilen.

Sei gegrüßt du Preußenwiege, du Quelle unserer Siege.

Theodor Fontane über die Mark Brandenburg

2. Brandenburg – ein deutsches Land zwischen Teilung und Einheit

Die Mark – das sind Seen, Land, Kiefern und Kasernen. Brandenburg – mit 29.000 km², das größte unter den neuen Bundesländern und mit 2,5 Mio. Einwohnern an elfter Stelle unter den 16 Bundesländern (90 Einwohner pro km²).

Brandenburg ist das Kernland des alten Preußens aber auch Ursprung wichtiger Beiträge zur deutschen Kultur, das Land der Kleist, Fontane und Schinkel.

„Mark“ bedeutet Grenzland. Seine Lage hat unser Land zwangsläufig zu einem in besonderem Maße europäischen, weltoffenen Land gemacht. Albrecht der Bär, erster Markgraf, siedelte im 12. Jahrhundert Holländer, Flamen und Rheinländer an, damit sie dem menschenleeren Land Entwicklungshilfe leisten. 500 Jahre später, als die Mark Brandenburg durch den Dreißigjährigen Krieg und Pestepidemien zwei Drittel ihrer Einwohner verloren hatte, holte der Große Kurfürst die in Frankreich verfolgten Hugenotten ins Land. Juden, Böhmen und Salzburger Protestanten folgten. Er versprach ihnen im Edikt von Potsdam 1685 Glaubensfreiheit, Existenzgründungsdarlehen und Subventionen. Das Oderbruch legten Holländer trocken, die Tuchmacherkunst brachten die Flamen. Die Preußenkönige hielten „Menschen für den größten Reichtum“. Unter Friedrich dem Großen konnte jeder nach seiner Fasson selig werden (im Gegensatz zum angeblich so fortschrittlichen 20. Jahrhundert). Das Jahr 1945 brachte in den Westzonen eine wirklichen Wandel von der Diktatur zur Demokratie – im Osten jedoch nur den Wechsel von einer Diktatur in die nächste. Wie so vieles andere in der DDR war auch die Zerschlagung der Länder und die Kreisreform 1952 durch Ulbrichts Feudalsozialisten ein historischer Rückschritt – weg von Emanzipation, kommunaler Selbstverwaltung und Teilhabe – zurück zu (undemokratischem) Zentralismus, Bevormundung und Zwang. Auch die Kreise wurden bewusst ahistorisch und zu klein gestaltet – dasselbe Prinzip wie bei der Bodenreform. Damit keine Partikulargewalten entstehen und man sie besser dirigieren konnte, war zum Beispiel der neue Kreis Gransee mit ca. 40.000 Einwohnern kaum lebensfähig, der neue Kreis Oranienburg mit ca. 120.000 Einwohnern sogar noch der zweitgrößte der DDR. Die durchschnittliche Einwohnerzahl der DDR-Kreise betrug nur 60.000.

Mit kommunaler Selbstverwaltung hatten diese Strukturen nichts zu tun. Willensbildung erfolgte nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt. Der Publizist drückte es so aus: Die DDR ist aus zwei Gründen gescheitert: erstens an ihrer dramatischen Ineffizienz und zweitens an ihrer Unwahrhaftigkeit.

Am Anfang war der Plan – am Ende war er verkehrt. Planung ersetzt Zufall durch den Irrtum.

Aus der sozialistischen Schöpfungsgeschichte

3. Die Ausgangslage 1990

45 Jahre Kommunismus mit seinen tiefgreifenden ökonomischen, ökologischen und vor allem moralischen Verwüstungen und Deformationen haben aber nicht vermocht, das vielgestaltige historische und kulturelle Erbe dieser europäischen Region auszulöschen. Kaum hatte sich der Druck gelockert, wurden alte Prägungen wieder sichtbar, brachen aber auch alte Konflikte wieder auf. Längst totgeglaubte historische und nationale Symbole, Fahnen, Wappen usw. und auch die Erinnerung an bisher verdrängte Gestalten aus der Geschichte zeigen, wie lebendig das historische Gedächtnis ist. Das war eine der wenigen erfreulichen Überraschungen nach der Wende. Aber ganz allgemein passte der Deckel der bundesrepublikanischen Gesetze (die schnell und 1:1 übernommen werden mussten) nicht auf den Topf unserer Probleme. Anfang der 90er Jahre richtete sich die Enttäuschung und Wut der aufgebrachten Bevölkerung oftmals (wenig logisch) nicht gegen jene, die die Karre in den Dreck gefahren hatten, sondern jene, die sie da herausziehen wollten. Potsdam, Berlin, erst recht Bonn und Brüssel waren weit, aber Bürgermeister und Landräte waren nah und auf sie ging man los. Die neuen, kaum geschaffenen und ungefestigten Kommunalverwaltungen trugen in dieser Zeit die Hauptlast im Transformationsprozess. Als im Herbst 1990 die neuen Länder geschaffen wurden, dauerte es in Brandenburg lange, ehe endlich eine Koalitionsregierung (Ampel) gebildet war. Diese beschäftigte sich nicht immer mit dem Wichtigsten zu erst. Es gab noch kein Katastrophenschutzgesetz, kein Rettungsdienstgesetz, kein Brandschutzgesetz und weitere wichtige Gesetzgebungen für die Daseinsvorsorge – aber ein (großzügiges) Ministerversorgungsgesetz war schnell auf den Weg gebracht.

Wer überall stark sein will, ist überall schwach.

Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke

4. Die dezentrale Konzentration und Kommunalreformpläne der Landesregierung Anfang der 90er Jahre

Klar war, dass die Kreise, Städte und Gemeinden aus der DDR-Struktur zu klein waren. Von allen überhaupt denkbaren Fehlern, ließ die Landesregierung immerhin einen aus: Die Bezirke wurden aufgegeben und das zweistufige Verwaltungssystem angestrebt. Das heißt, die Kreise waren von Anfang an janusköpfig – einerseits selbständige Kommunen, andererseits als untere Landesbehörde Auftragsverwaltung. Das war in einem dünnbesiedelten Flächenland wie Brandenburg die einzig vernünftige Lösung.

Bekanntlich wächst der Baum von unten nach oben. Die Kommunalreform erfolgte aber umgekehrt – erst Kreisreform, dann Gemeindereform. Dahinter stand das (ideologische) Planungskonzept der „dezentralen Konzentration“ (Gießkannenprinzip). Dieses Konzept war kein brandenburger Gewächs, sondern wurde ausgeheckt von NRW– und Westberliner „Entwicklungshelfern“, die in der „Volksrepublik Brandenburgistan“ eine neue Spielwiese für ihre schon im Westen längst gescheiterten Wahnideen der 70er Jahre entdeckten. Wie auch im Bildungssystem (lieber gleich schlecht, als unterschiedlich gut) sollte das Land „gleich“ und „modern“ entwickelt werden. Sowohl die Menschen als auch die Wirtschaft sollten sich gefälligst dorthin bewegen, wo Planer sie haben wollten.
Da die nördliche Landeshälfte keine Oberzentren (heutige kreisfreie Städte Potsdam, Brandenburg, Frankfurt und Cottbus) hat, wurden von Anfang an Neuruppin und Eberswalde favorisiert. Die zwischen Elbe und Oder natürliche Entwicklungsachse aus Berlin nach Norden in den Mecklenburger Raum über die B 96, die wichtige Bahnlinie Berlin-Rostock und die obere Havelschiene wurde systematisch unterschätzt und vernachlässigt. Das „Tortenprinzip“ sah Sektoralkreise aus dem Berliner Speckgürtel (wo angeblich Milch und Honig fließen) in das strukturschwache Hinterland vor. So sollten die Entwicklungsimpulse der Metropole Berlin in die Raumtiefe Brandenburgs gelenkt werden – in der Theorie! Praktisch haben solche Kreise aber oft genug zusammen Probleme, die sie einzeln gar nicht hätten. Das Tortenprinzip war von Anfang an nicht umsetzbar, weil die Sektoralkreise nicht bis in die Prignitz, Uckermark oder Lausitz geführt werden konnten. Es sollte also zwei Kategorien von Kreisen geben: Sektoralkreise angrenzend an Berlin und Kreise in der Peripherie ohne Berlingrenze. Zusätzlich machte man den Fehler, zwar die Stadtkreise Schwedt und Eisenhüttenstadt abzuschaffen, aber Potsdam, Brandenburg, Frankfurt und Cottbus kreisfrei zu lassen. Dies obwohl

  • sie die natürlichen Kreisstädte darstellten,
  • damals schon absehbar war, dass sie mit Ausnahme der Landeshauptstadt auf Dauer viel zu klein waren,
  • und Bevölkerungsabgang in das Umland oder gar endgültiger Wegzug drohte.

Ganz offensichtlich schwebte den Potsdamer Planern von Anfang an ein Großkreis aus den Altkreisen Neuruppin, Gransee und Oranienburg mit der Kreisstadt Neuruppin vor.

Wenn Würste und Gesetze gemacht werden, sieht man besser nicht hin. Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten lässt sich immer noch regieren. Bei schlechten Beamten aber, helfen die besten Gesetze nichts.

Otto von Bismarck

5. Reaktion der Entscheidungsträger in Kreistagen und Kreisverwaltungen auf die Pläne der Landesregierung

Unstrittig war, dass die administrativen Strukturen der DDR nicht den Anforderungen an eine moderne Verwaltung entsprachen und auf Dauer nicht lebensfähig waren. Unstrittig war die Kreisgebietsreform, ein notwendiger und logischer Schritt, um die Verwaltungskraft schon aus wirtschaftlichen Gründen zu bündeln und dadurch die kommunale Selbstverwaltung zu stärken. Unstrittig war auch, dass eine Kreisgebietsreform soziale Besitzstände (Arbeitsplätze!) und Statusfragen empfindlich berühren musste. Unstrittig war weiter, dass es einer landesweiten Lösung bedurfte und man diesen Strukturentwicklungsprozess nicht dem Selbstlauf überlassen konnte. Die Kreistagsabgeordneten, praktisch aller Parteien, verweigerten sich deshalb nicht grundsätzlich einer Kreisgebietsreform, sondern wollten sowohl die Bevölkerung als auch sich selbst nicht von der politischen Willensbildung ausgeschlossen sehen. Obwohl also der Altkreis Oranienburg allein einer in jeder Hinsicht gesunden Größenordnung entsprach und schon allein absolut lebensfähig war, begegneten wir hier der Kreisgebietsreform nicht egoistisch, sondern aus übergeordnetem Interesse aufgeschlossen.

Der erste Schritt der Landesregierung hätte eine komplexe Funktionalreform, d. h. eine Neujustierung der Zuständigkeiten durch eine grundlegende Stärkung der kommunalen Ebene (ohne Mini-Gemeinden), durch Verlagerung von Verwaltungsaufgaben von oben nach unten sein müssen. Tatsächlich geschah das Gegenteil. Die Potsdamer Ministerialbürokratie und auch eine Fülle von neuen Landesämtern (z. B. Landesumweltamt) und oft fragwürdigen Landesgesellschaften (z. B. LEG) wucherten immer weiter aus und schufen teilweise Doppelstrukturen.

In einer historisch einzigartigen, chaotischen Lage mit einer Vielzahl existenzieller, unaufschiebbarer Probleme, begann die Landesregierung ohne psychologische Vorbereitung und Konzept ausgerechnet mit einer Kreisgebietsreform und dadurch objektiv mit einer Destabilisierung.

Bei der Kreisreform sah sich die Bevölkerung von der Willensbildung bald ausgeschlossen, da man das begründete Gefühl hatte, in Potsdam sei eh schon alles vorentschieden. An statt den Kreisen zunächst Gelegenheit zu geben, sich freiwillig und selbständig zu größeren Organisationseinheiten zusammen zu finden, wollte man in Potsdam die Reform allein durch eine parlamentarische Gesetzgebung „durchziehen“ und schuf gerade dadurch neue Konfliktfelder.

Zentraler Punkt war die Festlegung von neuen Kreisstädten tief im Hinterland, die sowohl von der Bevölkerung als auch von Verwaltungsmitarbeitern verkehrstechnisch schwer erreichbar waren und auch psychologisch nicht als neue Zentren angenommen wurden. So bildete sich im Altkreis Oranienburg bald eine Bürgerinitiative, die regen Zulauf erhielt und sich öffentlichkeitswirksam auch mit großen Demonstrationen für eine Kreisstadt Oranienburg stark machte. Insbesondre wuchs die Empörung, als die weltfremden Potsdamer Planer das Projekt „Banane“ kreierten (Zusammenschluss der Altkreise Oranienburg, Gransee und Templin mit Kreisstadt Zehdenick). Der damalige Oranienburger Bürgermeister und die Landtagsabgeordneten aus dem Altkreis Oranienburg schienen sich für diese lebenswichtigen Fragen weniger zu interessieren. Nicht zu vergessen ist, dass die ostdeutsche Bevölkerung im dramatischen Transformationsprozess praktisch auf allen Lebensgebieten einem ungeheuren Veränderungsdruck ausgesetzt war und einfach müde und ablehnend reagierte.

So was Dummes, vor der Hochzeit noch was Junges.

Volksmund

6. Das Projekt Großkreis Niederbarnim und der Kampf um die Kreisstadt

Um den von der Landesregierung übergestülpten Plänen konstruktiv entgegenzutreten, fanden sich die Altkreise Oranienburg, Bernau und Gransee sehr bald zu einem freiwilligen Zusammenschluss bereit. Der neue Großkreis („Zwiebel“) sollte den historischen Namen „Niederbarnim“ führen und Oranienburg Kreisstadt werden. Alle drei Kreistage bekannten sich mehrheitlich zu diesem Projekt und beantragten am 4. Juli 1991 beim Innenminister die Zusammenlegung. Ein damals weit verbreitetes Foto zeigte die drei Landräte Friese, Schröter und Voigt im gemeinsamen Handschlag. Sogar ein gemeinsames Gästebuch des gewünschten Kreises Niederbarnim wurde schon angelegt und der damalige NRW-Ministerpräsident Johannes Rau schrieb sich bei einem Besuch als erster (und letzter) in dieses Gästebuch ein.

Das Projekt Niederbarnim hatte nicht nur den Vorteil, das es von unten gewollt auf freiwilliger Basis entstand, sondern es setzte auch landesweit Maßstäbe, die dem Gemeinwohl dienten. Ich bin auch heute noch der festen Überzeugung, dass diese Idee nicht nur für unsere Region Sinn machte, sondern für das ganze Land den Luftröhrenschnitt bedeutete. Ein Großkreis Niederbarnim hätte mit 2.560 km² und zwischen damals 250.000 und heute 300.000 Einwohnern auch automatisch entsprechende Großkreise nach sich gezogen (Prignitz-Ruppin und Oberbarnim-Uckermark). Die heutigen Kreise Prignitz, Ostprignitz-Ruppin und Uckermark wären so der Isolation als Kreise mit einer viel zu kleinen Bevölkerungszahl entgangen und wir hätten statt 18 vielleicht nur elf Gebietskörperschaften erhalten.

Klar war, dass die vom Potsdamer Landtag schließlich am 24.12.1992 aufgezwungene Kreisgebietsreform von vornherein zu kurz griff und auf Dauer nicht tragfähig war. Es entstanden 14 neue sehr heterogene Großkreise – davon acht Sektoralkreise mit Zugang zu Berlin – einer war der neue Kreis Oberhavel.

Damit waren sechs Kreise in der Peripherie des Landes und bei der bereits damals sicher absehbaren demographischen Entwicklung nicht lebensfähig, weil viel zu bevölkerungsschwach. Von den acht Sektoralkreisen wurden in sieben Fällen die Kreissitze ins Hinterland verlegt (Eberswalde, Rathenow, Seelow, Belzig, Beeskow, Lübben, Luckenwalde). Nur im achten Kreis Oberhavel aus den Altkreisen Oranienburg und Gransee blieb der Sitz der Kreisverwaltung im S-Bahn-Gürtel, nämlich in Oranienburg. Der damalige Innenminister Ziel (ich zählte nicht zu seinen engsten Freunden) hatte Mühe, dem Landtag diese Inkonsequenz zu erklären. Dabei wäre doch die Antwort ganz einfach gewesen: Sein Wahlkreis lag im Altkreis Oranienburg und Landtagswahlen standen vor der Tür.

Einer muss der Bluthund sein.

Reichswehrminister Noske 1918

7. Die 6er-Kommission

Zur Vorbereitung des neuen Großkreises Oberhavel sollte der Aufbau der neuen Kreisverwaltung gemäß § 21 Kreisneugliederungsgesetz durch eine Arbeitsgruppe bestehend aus den beiden Landräten der Altkreise Oranienburg und Gransee sowie je zwei weiteren von den Kreistagen bestellten Mitgliedern erfolgen. Die Konstituierung dieser Kreisneugliederungs- oder sogenannten 6er-Kommission erfolgte am 5. März 1993 mit folgenden Mitgliedern: Landrat Schröter, Ney, Bergmann, Landrat Voigt (für ihn später zeitweise Jasnoch) Richter und Stöcker. Die SPD-Genossen hatten es verdächtig eilig, mich zum Vorsitzenden vorzuschlagen. Meine Fantasie reichte noch aus, mir vorzustellen, dass man sich mit diesem Posten keine Freunde schafft. Trotzdem sagte ich mir: viel Feind viel Ehr; stimmte zu und wurde einstimmig zum Vorsitzenden gewählt. Es wurden Facharbeitsgruppen gewählt für: Schulämter, Hauptamt, Haushalts- und Investitionsplanung, kreiseigene Bildungseinrichtungen, wirtschaftliche Tätigkeit, Jugend und Soziales. Wichtig und richtig war § 25 des Kreisneugliederungsgesetzes. Danach durften die aufzulösenden Kreise Maßnahmen, die den Vermögenshaushalt belasten, nicht mehr allein treffen. Sie durften bis zum Entstehen der neuen Landkreise weder neues Personal einstellen noch befördern oder höher gruppieren.

Besonders schwierig waren naturgemäß die Schaffung neuer Stellenpläne und andere personalwirtschaftliche Maßnahmen. Schwierigkeiten entstanden aber auch aus der unterschiedlichen Finanzsituation der beiden Altkreise und der Zusammenführung der Haushalte. Der von mir hoch geschätzte Herr Wenzel (Verwaltungshelfer aus Kleve) machte darauf aufmerksam, dass der Altkreis Gransee keinerlei finanziellen Spielraum mehr hatte, um Investitionen zu tätigen, ganz zu schweigen von den Folgekosten, da er ernsthaft überschuldet sei. Obendrein war noch im Dezember 1992 ein Kreditvertrag geschlossen worden, der den neuen Kreis Oberhavel einschließlich Zinsen mit 6,7 Mio. DM belastete.

Trotzdem beschloss die 6er-Kommission den Grundstückskauf für das Märkische Oberstufenzentrum (MOZ) in Zehdenick, auch um EU-Fördermittel in Anspruch nehmen zu können.

Es galt eine Fülle weiterer wichtiger Fragen zu lösen: von der gemeinsamen Tarifgestaltung im ÖPNV, der flächendeckenden Einführung eines einheitlichen elektronischen Informationssystems, einer gemeinsamen Abfallwirtschaft und Müllgebührenfestsetzung für 1994, Straßenbaulastumwidmungen, der Zusammenlegung der Rettungsdienste bis hin zu einem Kfz-Kennzeichen, der Festlegung der künftigen Anrechnung von Beschäftigungszeiten und einem gemeinsamen Kreiswahlleiter.

Belastend war auch, dass wir mit einer Fülle von Standortforderungen (z.B. beim Staatlichen Schulamt, Landwirtschaftsamt usw.) konfrontiert wurden, die im Grunde darauf hinaus liefen, alles so und dort zu lassen, wie und wo es bisher war. Das dies nicht die Intention des Gesetzgebers beim Kreisneugliederungsgesetz war, dürfte einleuchten. Deshalb nahmen wir eine umfassende Bestandsanalyse der kreiseigenen bzw. angemieteten Räumlichkeiten hinsichtlich Quadratmetergröße, Beschaffenheit und Lage vor. Erst dadurch war es möglich, die Standortfragen und Umzugplanungen komplex anzugehen. Hierbei ging es nicht um einen „Poker oder Territorialschacher“ sondern um objektiv begründete Entscheidungen zum Wohl des neuen Kreises und seiner Menschen. Der Begriff „Bürgernah“ bezeichnet meiner Meinung nach nicht die territoriale Entfernung des Einzelnen zur Verwaltung allein (hier kann man es nie allen recht machen) sondern ebenso sehr die kostengünstigste und effiziente Arbeit einer Behörde.

Auf der letzten Sitzung der 6er–Kommission am 22. November 1993 wurden kommissarische Dezernenten und Amtsleiter für den Großkreis ab dem 6. Dezember 1993 (Neuwahl und Konstituierung) namentlich benannt. Es erfolgte eine interne Ausschreibung aller Dezernenten- und Amtsleiterstellen bis zu Wahl des neuen Landrates. Am 24. November 1993 fanden in Gransee und Oranienburg Belegschaftsversammlungen statt, auf denen wir den Stand der Kreiszusammenlegung erläuterten und versuchten, auf Probleme der Mitarbeiter einzugehen.

Am Ende dieser 6er-Kommission war ich fast froh, dass unser neuer Oberhavelkreis sich nur aus zwei Altkreisen rekrutierte und nicht aus drei oder vier wie bei anderen Großkreisen.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Aristoteles

8. Zusammenwachsen und Entwicklung des neuen Landkreises Oberhavel

Der Brandenburger Landtag hatte per Gesetz beschlossen, dass zeitgleich mit der Kommunalwahl am 5. Dezember 1993 die neuen Landkreise konstituiert wurden. Bei einer Fusion hat es der kleinere Partner immer schwerer. Das sehen wir ja auch bei der Deutschen Einheit. Insofern hatte auch ich für die Ängste und Befürchtungen der Menschen im Altkreis Gransee Verständnis. Man sagt die meisten Ehen scheitern nicht an zu wenig Liebe sondern an zu viel Erwartungen. Von Liebe und positiven Erwartungen konnte aber ohnehin keine Rede sein. Das war eine psychologisch-pädagogisch günstige Ausgangslage, denn Grausamkeiten muss man schnell begehen und Wohltaten langsam (Machiavelli). Gleichwohl konnte von „Anschluss nach Artikel 23“ „Plattmachen“ und „Konquistadoren“ keine Rede sein. Wichtige Funktionen fielen z. B. an den neuen Kreistagsvorsitzenden Staufenbiel oder den Kreisbrandmeister Liesegang aus dem Norden. Innerhalb des neuen Kreistages spielte es schon bald keine Rolle mehr, ob die Abgeordneten aus dem Norden oder Süden stammten, was aber keinesfalls zu allgemeiner Harmonie führte. Obwohl aufgrund des Bevölkerungsschwerpunktes die große Mehrheit der Kreistagsabgeordneten aus dem Süden stammte, wurde kontinuierlich der strukturschwache Norden bei der Mittelverteilung nach dem Gemeindefinanzierungsgesetz über viele Jahre weit überproportional gefördert. Um den Tourismus im Norden zu fördern, übernahm der neue Kreis den Ziegeleipark Mildenberg und förderte ihn mit beträchtlichen Investitionen. Die Stadt Gransee erhielt als Kompensation für den Verlust des Kreissitzes – es verblieb eine Verwaltungsnebenstelle – erhebliche Ausgleichsmittel sowie die polizeiliche Landesbußgeldstelle und das neue Feuerwehrtechnische Zentrum. Das Krankenhaus Gransee wurde aus strukturpolitischen Gründen von den Oberhavel Kliniken übernommen und damit gesichert. Schon bald zeigten sich die Vorteile der Fusion in einer größeren, kostengünstigeren und effektiveren Kreisverwaltung. Die Kräfte wurden nicht addiert sondern multipliziert. Auch der Norden hatte mehr gewonnen als verloren.

Fast zwanzig Jahre hatte der Landkreis Oberhavel einen ausgeglichenen Haushalt und das regelmäßig bei einer landesweit niedrigsten Kreisumlage, was den Städten und Gemeinden zu gute kam.

Gleiches lässt sich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im neuen Landratsamt sagen. Die „Granseer“ wurden von den „Oranienburger“ Kollegen mit Blumen begrüßt und bald spielte es auch hier keine Rolle mehr, woher man ursprünglich kam. Das beste Beispiel hierfür stellte für mich meine neue Sekretärin Frau von Borzyskowski dar, die vorherige Sekretärin des Granseer Landrates. In den folgenden über 16 Jahren fiel zwischen uns kein böses Wort, was aber zweifellos ihr Verdienst war, denn ich bin etwas cholerisch veranlagt und habe ihre Geduld bestimmt oft auf eine harte Probe gestellt.

Wir übten mit aller Macht – aber immer wenn wir begonnen zusammengeschweißt zu werden, wurden wir umorganisiert.
Ich habe später im Leben gelernt, dass wir oft versuchen, neuen Verhältnissen durch Umorganisation zu begegnen.
Es ist eine phantastische Methode: Sie erzeugt die Illusion des Fortschritts, wobei sie gleichzeitig Verwirrung schafft, die Effektivität vermindert und demoralisierend wirkt.

Gaius Petronius – Römischer Feldherr – 80 n. Chr.

9. Die neuen Pläne zur 2. Kreisgebietsreform

Eine Reform ist kein Wert an sich. Generell gilt: Lieber Bestehendes verbessern als Neues schaffen. Mindestens aber sollte man sich vorher gründlich überlegen, was man aufgibt und sicher sein, etwas besseres zu bekommen. Nicht alles Neue ist gut und nicht alles Gute ist neu. Aber viele Menschen, auch Landräte, überkommt regelmäßig die Freude und der Drang am „Reformieren“ und „Modernisieren“.

Ich hatte z. B. mit Kollegen Schröter öfter Streit, da Strukturveränderungen im Landratsamt nach meinem Eindruck sein liebstes Spielzeug waren.

Dass gerade Kommunalreformen auch scheitern können, wenn sie zwar rational begründet werden, aber die subjektive Seite, die Transparenz, die Gefühle der betroffenen Menschen verletzen, dafür gab es schon im Altbundesgebiet genügend Belege. So musste z. B. die zwangsweise Vereinigung von Wetzlar und Gießen zur „Lahnstadt“ aufgegeben werden. Ich bin äußert skeptisch und zwar nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen, wenn ich die heutigen Monsterkreise in Mecklenburg-Vorpommern sehe. Hier geht meiner Meinung nach Demokratie verloren, denn über solche riesen Entfernungen ist z. B. die Wahrnehmung eines ehrenamtlichen Kreistagsmandats sehr erschwert. Auch die verkehrstechnische Erreichbarkeit der Landratsämter durch die Bürger wird nicht durch Internet und Stärkung der Gemeinden kompensiert. Die Identität und das Gemeinschaftsgefühl der betroffenen Bevölkerung können bei einer übergestülpten Reform mit Riesenkreisen verletzt werden. Die freiwillige Akzeptanz der Betroffenen, die ja Subjekt und nicht Objekt sind, stellt einen hohen immateriellen Wert dar. Auch kennt die Geschichte und Politik keine „Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand“ wie das Juristen ausdrücken. Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre hat neue Realitäten geschaffen. Wir können nicht einfach da wieder anfangen, wo wir 1993 standen.
Ministerpräsident Platzeck hat die falsche „Dezentrale Konzentration“ (Gießkannenförderung) viel zu spät aufgegeben und durch die Konzeption „Stärken stärken“ ersetzt. Das ist kein Darwinismus, womit man die Schwachen abschreibt. Aber man stärkt nicht die Schwachen, in dem man die Starken schwächt, sondern durch Wertschöpfung statt Umverteilung. Wer immer gerettet wird, strengt sich schließlich nicht mehr an. Ich hatte z. B. kein Verständnis dafür, dass sich bei der Schülerbeförderungssatzung der überschuldete Kreis Ostprignitz-Ruppin fünfmal rechtswidrig soziale Wohltaten gönnte, die sich der finanziell saturierte Kreis Oberhavel rechtskonform nicht leistete. Auch die Wirtschaft ist keine Kuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. Ja, auch das Land Brandenburg ist verschieden und es wird nie gleich sein können.

In Potsdam ist nun eine Enquetekommission zur Verwaltungsreform zu Gange. In deren Auftrag hat das Innenministerium drei Varianten erarbeitet: „12 + 1“, „8 + 1“ und „5 + 1“, soll heißen, die gegenwärtig 14 Landkreise sollen entsprechend reduziert werden und von den jetzigen vier kreisfreien Städten nur noch die Landeshauptstadt Potsdam kreisfrei bleiben. Am schlimmsten ist für mich die Variante „5 + 1“, d. h. fünf Riesenkreise, die den gegenwärtigen Regionalen Planungsgemeinschaften entsprechen. Nach meinem sicheren Eindruck waren diese Regionalen Planungsgemeinschaften bisher schon Hebammen, die sich auf Fehlgeburten verstanden. Sie sind einfach zu groß mit einer Ausdehnung bis zu 150 km und bis zu 600.000 Einwohnern.

Ich kann es mir auch hier nicht verkneifen, daran zu erinnern, dass die Landesregierung lieber Polizisten und Forstleute einspart, als Ministerialbürokraten oder gar Ministerien. In der Landesverwaltung gibt es immer mehr „Häuptlinge“ und immer weniger „Indianer“. Dort bestehen gewaltige Einsparpotenziale, die nicht geweckt, ja nicht einmal entdeckt sind!

Die Variante „12 + 1“ d. h. die Eingliederung der kreisfreien Städte Frankfurt, Cottbus und Brandenburg sowie die Fusion der beiden Prignitz-Kreise und der beiden Westlausitz-Kreise erscheint noch als die vernünftigste Lösung.

Man kann die guten Zeiten nur schätzen, wenn man die schlechten vorher durchgemacht hat.

Tina Turner

10. Rückblick und Ausblick

Unser Landkreis Oberhavel steht heute nicht nur relativ im Vergleich zu anderen, sondern auch absolut gut da. Der Kreis hat sich als lebensfähig, stabil und erfolgreich erwiesen. Alle Daten zeigen das und jeder kann es sehen: Schulen, Krankenhäuser, Kreisstraßen usw. sind saniert und auch als eine der ersten Optionskommunen mit Jobcenter ist Oberhavel erfolgreich. In den letzten zwanzig Jahren ist enorm viel erreicht worden – materiell, aber auch das Gemeinschaftsgefühl ist gewachsen. Der nicht historische Name „Oberhavel“ wurde angenommen – vom Oberhavel Bauernmarkt, dem Oberhavellied bis zu Oberhavel-TV und vielen Verbänden, Vereinen und sonstigen Organisationen. Das alles ist das Werk vieler – nicht nur eines genialen Landrats (oder seines noch genialeren Stellvertreters).

Friedrich der Große verlangte von sich und anderen: Lerne leiden ohne zu klagen. Die Deutschen haben heute diesen Satz umgekehrt. Dabei ging es keiner Generation vor uns besser als uns heute. Aber je besser es uns geht, desto unzufriedener werden wir. Über 90% der Menschheit würden gerne mit uns tauschen – hätten gerne unsere Sorgen. Warum sind wir so unzufrieden? Nicht, weil es uns wirklich schlecht geht, sondern weil es anderen noch besser geht?

Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen Berlin und Brandenburg und auch zwischen dem nördlichen und südlichen Oberhavelland sind groß und werden noch lange fortwirken. Die Einwohnerschaft Oberhavels stieg über 200.000, aber leider nur im Süden, im Norden sank sie. Wir müssen diese Ungleichheit vorläufig akzeptieren. Wirtschaftskraft und Lebensstandard mögen niedriger sein, aber ein ansonsten freundlicheres Leben kann dies teilweise aufwiegen. Dieses Leben können nur wir Brandenburger/Oberhavelländer selbst gestalten, wenn wir uns nicht zu Kopisten reduzieren, zu ewigen Nachzüglern des Westens.

Ich bekenne mich eindeutig zum System der sozialen Marktwirtschaft, aber nicht zur westlichen Dominanz der Wirtschaft über alle anderen Lebensbereiche. Es gilt heimatliche, familiäre und nachbarschaftliche soziale Bindungen zu erhalten und zu entwickeln. Der Lebenserfolg und –sinn des Menschen erschöpft sich nicht darin, was er leistet oder sich leistet. Die Regionalisierung und der Förderalismus sind die Bedingungen des deutschen und auch europäischen Einigungsprozesses. Der Nationalstaat ist für das Große zu klein und für das Kleine zu groß geworden. In diesem Sinne ist Brandenburg und das Oberhavelland einzigartig und unersetzlich. Preußische Nüchternheit und Ausdauer haben die Menschen unseres Landes stets aufgerichtet, sie immer wieder neu anfangen lassen. So werden wir auch die gegenwärtigen Prüfungen bestehen. Die Besinnung auf Geschichte, Tradition und Heimatliebe kann hier eine große Kraft und Stütze sein. In ihrem Interviewbuch „Was Russen über Deutsche denken“ schrieb Julia Wosnessenskaja über uns: Gott liebt dieses Land und seine Menschen, weil sie ihr Land lieben.

Wie wird unser Landkreis in weiteren zwanzig Jahren aussehen? Gibt es ihn dann überhaupt noch? Mit Oscar Wilde möchte ich antworten: Am Ende wird alles gut.

Und wenn es nicht gut wird, war es noch nicht das Ende.

1 comment

  1. Lieber Michael,
    alle Achtung! Das ist prägnant und richtig. Passt wohl nicht in unsere halbgebildete und opportunistische Welt. Trotzdem muss es ein paar Leute geben, die gegen den Strom schwimmen. Das hast Du immer getan. Hoffentlich bemerken es die richtigen Leute.
    Gruß
    Martin, 30.3.2014

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